Furcht - Anfang allen Überlebens

Text aus: W.A.Siebel: “Schmach. Die Schuld eine Frau zu sein. Ein Lesebuch für Männer und Frauen”

7. Kapitel: Furcht - Anfang allen Überlebens

1. Vorbemerkungen            (hier die Anmerkungen)

Durch die Hemmung des Wollens in der Erziehung begegnen wir dem Dürfen und Sollen. Es wird ein Wohlverhalten erwartet, das von den Erzieherinnen und Erzieher definiert wird. Das Kind wird abhängig von z.T. unterbewußten Vorstellungen seiner Erzieherinnen und Erziehern und aufgrund dieser Vorstellungen be-handelt. Da bei noch so sinnvoll konzipierter Erziehung immer wieder dem Kind fremde, unbewußte Inhalte im Verhalten der erziehenden Personen zum Ausdruck kommen, muß das Kind schon früh lernen, mit diesem Fremden und Uneinfühlbaren umzugehen.

Hier schleichen sich die Irrtümer ein, denn das Kind bezieht insbesondere das Fremde auf sich und will sich vor dem Unbegreiflichen schützen, um weiter das Muß des Widerfahrnisses von “leben” in sein Will umzuwandeln. Das Kind lernt von den Folgen seines Verhaltens. Die “Aha-Erlebnisse” beginnen, seine Weltsicht zu strukturieren:

“Aha, so ist das: ich gehöre nur dazu, wenn ...”

“Aha, so ist das Leben: warm ist es nur, wenn die Mutter lacht, und die lacht nur, wenn ...”

“Aha, ich bin also nur wertvoll, wenn ...” usw.

Unangemessene Forderungen führen zu Bremseffekten und zum Abbruch von Initiativen. Das Wissen um die eigene Einzigartigkeit wird verhindert. Einsamkeit wird umgewandelt in Alleingelassensein und mit der Angst vor Verlorenheit umgeben. Diesen Zusammenhang nennen wir die Verwundungsatmosphäre (=VA), die in Einzelerlebnissen oder in der Gesamtatmosphäre bestehen kann. Zum Schutz des eigenen Willens zur Raumgestaltung werden die Erfahrnisse subjektiv in Erfahrungssätze umgestaltet, die die Basis für den Lebensstil bilden. Die Erfahrnisse der “Aha-Erlebnisse” werden als Bedingungen gesehen, die von außen kommen, und dann akzeptiert und sanktioniert.

Der Lebensstil ist also die Möglichkeit des Menschen, aus einer als lebensunmöglich erfahrenen Situation heraus zu überleben und den eigenen Willen zur Raumgestaltung zu schützen. Die Bedingungen werden als von außen kommend und auferlegt akzeptiert und zu Methoden des Lebensstils verarbeitet, um sich vor einer erneuten Verwundung zu schützen.

Um zu überleben, wandelt der Mensch das ihm eigene Soll und das ihm eigene Darf, also das Soll zur Sinnfindung und das Darf des sich in der Weite richtig Fühlens, um in das ihm auferlegte Darf bzw. Soll und bildet daraus dann sein Kann, das nicht nur den Willen zur Raumgestaltung schützt, sondern auch die Grenzen dieser Gestaltung bestimmt. Dieses Kann äußert sich dann sprachlich allerdings in anderen Wörtern, wenn moralisiert wird: “das tut man doch nicht” oder “das gehört sich aber nicht” u.ä.. So geschieht es nach der Ausbildung des Lebensstiles, daß die pathischen Begriffe (wie “wollen”, “dürfen”, “sollen”, “können”, “müssen”) kaum mehr in ihrer Eigentlichkeit benutzt werden, sondern vielmehr sich gegenseitig anfärben und nach der Anfärbung sich mehr verbergen, als daß sie wirklich den wahren Sachverhalt aussagen. Das Widerfahrnis der Primäridentität stellt die pathische Kategorie “leben” dar: Leben als Substantiv ist eine Abstraktion, die so tut, als habe “leben” ein eigenes Subjekt.

Die als “geglückte Begegnung” zu bezeichnende Verbindung von Oozyte und Spermium läßt es zu, daß wir dieses Widerfahrnis als “lieben” bezeichnen. Das Substantiv “Liebe” ist eine Abstraktion, die vorgibt, jener Sachverhalt des Widerfahrnisses von “lieben” habe ein eigenes Subjekt. Wen wundert es, daß diesem Subjekt die diversen göttlichen Bebilderungen zugestanden werden: Amor mit Pfeil und Bogen -als sei “lieben” ein Schicksal, das den Menschen verwundend träfe! Hier ist die Enttarnung der Verwechslung mit einer Göttervorstellung noch am einfachsten. Im Sinne der Rätselhaftigkeit wird eine VA-Tendenz entgegen der schmerzhaften Erfahrung “Liebe” genannt.

Aus dem Gewordensein der Primäridentität ergibt sich die physiologisch-logische Konsequenz der Selbstwerdung: die Primäridentität “muß” zum Selbst führen, da sie darin ihr Selbstverständnis zum Ausdruck bringt. Mit diesem “müssen” als logische Konsequenz (nicht als Zwang!) wird der Mensch geboren und erfährt seine eigenen Lebensäußerungen als “wollen”, das durch die Begrenzung des “dürfens” und die Richtungsangabe des “sollens” so (von den Eltern als pseudosinngebende Instanz) gelenkt und angefärbt wird, daß “können” als Produkt eines Erziehungssachverhaltes bleibt, nicht als Ausdruck tatsächlichen “Vermögens” (Beispiel: “Man kann doch nicht diesen Stein durchs Fenster werfen ...”).

Nach der Geburt entläßt das neugeborene Kind mit ungeheurer Kraft seine Energien (physiologisch: aus der Formatio reticularis), als Mut benennbar, sich den Herausforderungen zu stellen; als “Freiheit für...” eine Dimension darstellend, die alsbald von der Begrenzung des Raumes durch “dürfen” und “nicht dürfen” (von den Eltern) definiert wird, wobei die Richtung als “sollen” aus der Ohnmacht heraus akzeptiert wird, die sich aus der Schwäche der Position des Kindes gegenüber den Erwachsenen ergibt. Nicht das Kind mit seinen Möglichkeiten soll sich “Frucht” sein, die Angewiesenheit auf Versorgung wird umgewandelt in Abhängigkeit, die Erlangung der natürlichen Versorgung wird zur “Frucht”, die jederzeit entzogen werden kann (Lohn und Strafe sind die regelmäßigen Erziehungsmethoden, um die Bedürfnisse eines Kindes zu kanalisieren). Inhalt von Hoffnung wird, wie oben beschrieben, auf (einen Elternteil) projiziert.

Um zu überleben, paßt sich das Kind ein in die Familienatmosphäre und fürchtet die Wiederholbarkeit von VA-Erfahrungen. Furcht, nicht Angst, ist das erste gedachte Gefühl (s.Anm.5), das ein Kind erlernt, da es den Inhalt dessen, was es fürchtet, nicht benennen kann (Angst kann ihren Gegenstand benennen!). Furcht jedoch bedeutet Verweigerung der Erfahrung von Gewißheit, verhindert die animative Begleitung von Erfahrungen mit Freude, da die VA-Erfahrung nun wirklich keinen Anlaß zur Freude, sondern vielmehr zum Schmerz darstellt. (1)

2. Der Entstehungszusammenhang der Furcht

Einige Umgangsweisen der Eltern mit dem Kind zielen auf die Identifizierung von Sein und Selbstverständnis beim Kind. Das im genauen Wortsinne selbstverständliche Sein des Kindes ist ja dem Kinde selbst verständlich, wenn auch auf eine nicht geistige Art und Weise. Der Organismus organisiert eben auf physiologische und nicht auf psychologische Weise die Lebensäußerungen des Kindes. Diese Lebensäußerungen als selbstverständlicher Ausdruck des Seins dieses individuellen Kindes sind geistig-inhaltlich nicht faßbar und deshalb in der Regel das Gegenüber von Interpretationen bis hin zu der am meisten bekannten Fehldeutung, der Mensch sei was er tut (Identifizierung von Person und Verhalten).

Die Teilhabe des Menschen am Sein ist unmittelbar einsichtig: Kein Mensch ist das Sein. Das Selbstverständnis von Sein erschöpft sich ganz offenkundig im Menschen nicht. Seiendes hat also Teil am Sein, repräsentiert das Sein jedoch nicht. Diese Teilhabe ist möglich, da das Sein an sich selbst teilgibt. Diese Teilgabe ist für das Sein selbstverständlich und nur ihm selbst, oder dem, was noch vor dem Sein gedacht werden kann, verständlich. Das bedeutet für unsere Wahrnehmung: Selbst wenn wir die Summe von allem Seienden erfassen könnten, hätten wir noch nicht das Sein erfaßt. D.h.: selbst wenn wir die Summe aller Lebensäußerungen eines Kindes erfassen könnten, hätten wir das Sein eines Kindes trotzdem noch immer nicht erfaßt.

Wem die hier erkennbaren Lücken unerträglich oder peinlich erscheinen, der wird sie durch Produktion eigener Vorstellungen und Ideen füllen und diese dann als wahre Erkenntnis über das Sein ausgeben. Es handelt sich dann jedoch stets dabei um Inhalte des persönlichen Glaubensbekenntnisses. Diese sogenannten Erkenntnisse (eigentlich Bekenntnisse), sind das Ergebnis der Addition von bisjetzigem Wissen plus das Fürwahrhalten der Inhalte der die Lücke füllenden Ideen. Dabei wird die Existenz einer Idee schon als Beweis ihres Wahrheitsgehaltes betrachtet.

Der Begriff “erfassen” ist eben in rein geistigem Sinne verwendet worden. Diese Begrenzung heben wir auf und sagen, daß die eben genannten Lücken für die Gefühligkeit des Menschen keine Lücken sind: Ein Kind ist auch über die Gefühlswahrnehmung “erfaßbar”. Die Akzeptanz dieser Gefühle traut den Inhalten der Wahrnehmung, auch wenn sie nicht verbalisierbar sind, und setzt das genuine Gefühl der Gewißheit frei. “Gewißheit ist jenes Gefühl, in dem ich Erfahrung als Freude erlebe, durch die mein Selbst, dem Klarheit widerfährt, Sein faßt und als menschliche Mitte das Zeugnis meiner Primäridentität wahrt: Ja sagen zur Gelebigkeit des Menschen (per effectum: Ja sagen zur Relationspotenz des Menschen” <2> - also zur Fähigkeit, zu Nichtselbstigem in Beziehung zu treten).

Verwundungserfahrungen können so wirksam werden, daß Menschen gelernt haben, dieses Gefühl durch verbalisierte, geistige Produktionen zu ersetzen (3). Es handelt sich dabei stets um Vorstellungen über das Woher ihres Menschseins. So können Relationen zwischen Eltern und Kind auch außerirdischen Charakter erhalten. Ein Ausdruck für diese Tendenz ist z.B. die Redewendung, daß ein Kind “zur Welt komme”, wobei ja dann wohl der Mutterleib als außerweltlich gedacht werden soll.

Die Charakterisierung oder Interpretation der Relation zum Kind durch metaphysische Elemente ist in der Lage, die persönliche Position der Eltern religiös so auszugestalten, daß sie als dem Kind gegenüber erhöht empfunden werden kann. Anspielungen auf Erbanlagen “das hast du aber nicht von mir” oder “du bist wie ...” (wahlweise z.B. Vater, Mutter, Tante, Onkel) oder auch “Du bist ein Geschenk Gottes” gehören in diese Ausgestaltung. Die erwünschte Selbsterhöhung kann wegen der tatsächlich vorhandenen Gleichwertigkeit nur als Erniedrigung des Kindes dargestellt werden. Jede Abwertung eines anderen Menschen dient der Aufwertung der eigenen Person, wenn im subjektiven Erleben der eigene Wert angegriffen zu sein scheint.

Diese Selbsterhöhung geht also einher mit einer Erniedrigung des Kindes. Die Erniedrigung beschwert das Kind. Sie geht einher mit der Produktion einer Atmosphäre (häufig eben mit einer Art “Schwere”, bekannt auch als “dicke Luft”), sie begrenzt eben auch auf physiologische Weise die Möglichkeit beim Kind, Gefühle zuzulassen. Der Satz “du bist ein Geschenk Gottes” klingt nicht unangenehm, wenn doch bloß diese Mitteilung nicht mit solch einer Schwere versehen würde. Der Inhalt des Satzes macht sich im Umgang mit dem Kind bemerkbar. Eltern leiten sich Rechte daraus ab, da sie ja als Mitarbeiter oder Mitarbeiterin Gottes anzusehen sind.

Wem verdanken wir unser “leben”? Wer hat uns das “leben” geschenkt? Die Erfindung dieser Frage trägt ihren Fund schon in sich und führt religiöse Vorstellungen ein. Die Teilhabe am Sein wird zur Teilhabe am familiären Glaubensbekenntnis (4). Auf den ersten “Blick” sieht es hier so aus, als stünde eine Gottheit hinter dem Elternteil, doch der Elternteil stellt uns die Gottheit dar - der Elternteil als Gott über dieser Gottheit, der die Gottheit erklärt. Gleichzeitig wird die Erfahrung mit dem Kind so dargestellt, als würde dieser Elternteil das Kind “erleiden”. Dieses Empfinden von Leid verdeckt Lücken. Es ist insofern die lückige Information, die die Schwere ausmacht. Worin besteht die Lücke?

Eine Information fehlt offenbar immer bei der Erfahrung dieser Schwere. Sie breitet sich aus und kann dann durch bestimmte Methoden erhalten werden (z.B. durch die Schuldfrage, wie “Schwangerschaftsgerüchte”, daß alles so schwer gewesen sei damals, und daß überhaupt so viele merkwürdige Dinge passiert seien o.ä. Oft bekommen Kinder dann in diesem Zusammenhang zu hören “und das ist nun der Dank dafür”- für das “Ver-Danken” -, wir haben (oder wer hat?) irgendwie wohl “daneben gedankt”.

Das Vorhandensein des Kindes reißt eine Lücke in die bisjetzigen Erfahrungen und Vorstellungen der Eltern. Deshalb bedarf dieses Vorhandensein offensichtlich einer Erklärung für den Erhalt der bisjetzigen Vorstellungen. Das Vorhandensein eines Kindes bedarf mehr einer Erklärung als der Freude. Als angemessene Erklärung der Entstehung eines Menschen könnte gelten: Normalerweise geht der geglückten Begegnung von Oozyte und Spermium ein biologischer “Akt” (eine Tätigkeit eines Menschen weiblichen Geschlechts und eine eines Menschen männlichen Geschlechts) voraus.

3. Zum Erleben nach der Geburt

Ein ungeborenes Kind ist nicht vorstellbar, alle möglichen Vorstellungen der Eltern kommen nur durch Vergleiche zustande. Dann “kommt das Kind zur Welt” und ist ein ganz neuer, ein ganz anderer Mensch, der alle Vorstellungen “über den Haufen schmeißt”.

Unmittelbar nach der Geburt wird das Kind von der Mutter (und dann auch von dem Vater) als fremd erlebt. Die Lücke muß an dieser Stelle bereits erkennbar sein. Wir wissen, daß wir als Kinder als erstes gedachtes Gefühl das der Furcht lernen (vor dem gedachten Gefühl Trauer; <5>) und uns damit verweigern können. Da Furcht die Stimmungsfolge einer Verweigerung ist, stellt sich die Frage: Wem oder was gegenüber verweigern wir uns?

Furcht ist jenes Empfinden, das bei bestimmten VA-Erfahrungen auftritt: Ein Kind wird in ihnen gezwungen, sich seiner eigenen Wahrnehmung und seiner Erfahrung gegenüber zu verweigern, um in der Familienatmosphäre weiterleben zu können, ohne daß ständig ein VA-Schmerz auftritt, das Kind fürchtet sich. Der Inhalt der Erfahrung wird um des Überlebens willen unterdrückt und damit gleichzeitig auch die Sinnhaftigkeit der Abwehr dieser Erfahrung. Das Kind verweigert sich sinnvollerweise einer Verwundungstendenz, entwickelt notwendigerweise Methoden, um einer Wiederverwundung zu entgehen und verdrängt die Wahrheit des Widerfahrnisses.

Die Verweigerung bleibt unverstanden und unkonkret und äußert sich dann in dem Empfinden, das als Furcht bezeichnet wird (6). Die Verdrängung führt zur überlebensnotwendigen Einpassung in die Familienatmosphäre und damit zur Entfernung von den eigenen genuinen Möglichkeiten. Furcht und Verdrängung führen zur Projektion, hier zur Übertragung eigener genuiner Möglichkeiten auf die Eltern, und so zur Sehnsucht nach Erlösung. Erlösung kann so verstanden werden als fühlbare Wahrnehmung der Annahme und des Seindürfens. Dabei ist der Wunsch nach Versöhnung auch von Töchtern zu denken.

Die VA-Folgen einer Mutter müssen ihr - sozusagen eine logische Sekunde vor ihren Fremdheitsempfindungen gegenüber dem Kind - als das Empfinden des “Verwundetwordenseins an sich” widerfahren, und das also vor diesem Fremdheitsempfinden, das beim Kind Trauer und zusätzliche Schwere bewirkt.

Nehmen wir einmal theoretisch an, die Mutter habe ihr Kind gewollt. Das Kind ist da, die Nabelschnur wird durchgeschnitten, abgebunden, das Kind wird abgesaugt, bei der Mutter findet die Nachgeburt statt usw. usw.: das Kind kommt das erste Mal zur Mutter. Was passiert in diesem Moment? Wartet das Kind erstmal, was da wohl an Gefühlen kommen mag? Es tut das, was Gefühle eben so tun, - sie fühlen. Das Kind fühlt. Und was ist mit der Mutter, was empfindet sie in diesem Moment?

Zu diesem Moment der Begegnung zwischen Mutter und Kind wurden stichprobenartig einige Frauen mit Kindern befragt. Die Antworten in Stichwörtern:

A. “Ich sah die Andersartigkeit des Kindes, seine Schönheit, und dann spürte ich eine Art Bergungsdrang.”

B. “Mein Kind wurde eingewickelt und eingepackt mir gebracht, ein kleiner Kopf guckte aus dem Bündel heraus. Was sollte ich empfinden? Mein erster Gedanke war etwa so: 'Bei mir ist eh alles zu spät.'”

C. “Als erstes erlebte ich eine sehr kritische Distanz zu dem Kind.”

D. “Ich habe das Kind gar nicht richtig anfassen wollen, es war so zart.”

E. “Es war nicht schön, das Kind.”

Alle Mütter erklären ihre Empfindung, ohne sie selbst auszudrücken. Eine Erklärung scheint also notwendig, da irgendetwas nicht so ist, wie es wohl sein sollte: “Die tollen Muttergefühle, von denen so viele sprachen, stellten sich bei mir zu Anfang überhaupt nicht ein.” D.h.: Gerade auch in dieser Situation kommt bei Frauen die Empfindung auf, “noch nicht richtig zu sein”, “noch immer nicht richtig” zu sein (7):

Sorge um die eigene Richtigkeit und die negative Selbstvorstellung mit internalisiertem Lebensstil, das Widerfahrnis von Schmach ist die logische Folge. Es handelt sich also um die töchterliche Addition (8). Die töchterliche Addition scheint durch Mystizismus “aufhebbar”. Zur Aufhebung der Schmach einer Vater-VA identifiziert die Mutter die Relation zum Kind mit ihrem persönlichen (privaten) Glauben. Das Ergebnis dieser Identifizierung wird in die Situation hineingegeben.

Eine andere Perspektive: Gemeinschaft wäre eigentlich der zu erwartende Effekt bei der Erstbegegnung zwischen Mutter und Kind. Wenn Gemeinschaft als Effekt stattfinden würde, müßte auch ein Erkennungsreflex stattfinden. Weshalb kann das jedoch nicht sein?

Vom Kind aus betrachtet: Der Erkennungsreflex wahrt die Unterschiedenheit der Persönlichkeiten und kann trennen zwischen Selbstigem und Nichtselbstigem. Er kann sich jedoch nur über die in einer VA-Erfahrung sich differenzierenden “i-Punkte” ereignen und ist somit erst nach der Verwundung möglich. Mit “i-Punkt” bezeichnen wir ja eben das, was einer VA-Tendenz ausgesetzt gewesen ist und durch die Methodik des Lebensstils vor Wiederverwundung geschützt worden ist. Diese i-Punkte bleiben, sind von innen her aktivierbar (wenn keine Gefahr droht, die der Organismus erspüren kann) und gehören zum Selbstigen eines Menschen. D.h. erst nach der VA des Kindes kann sich der Erkennungsreflex mit der Mutter ereignen. Dieser Erkennungsreflex ist bei Säuglingen ausgesprochen gut zu beobachten - schließlich haben sie ja noch nicht gelernt, sich verstellen zu müssen: Das spontane Lachen, die spontane Freude dem einen Menschen gegenüber, und dann das reglose Gesicht einem anderen gegenüber. Das ist Ausdruck der Wahrnehmung von Seindürfen, die Gefühle weckt, wo keine Gefahr droht, wo vielmehr eine gefühlige Antwort möglich ist.

Von der Mutter aus betrachtet: Wie soll sie in dieser Situation einen Erkennungsreflex empfinden? Alle möglichen unterbewußten und bewußten Ideen des Lebensstils, aus Beziehungserfahrungen und über den Geburtsschmerz sind doch hier anwesend. Wie soll da ein Erkennungsreflex im Hirnstamm stattfinden? Der “Bergungsdrang” ist Ausdruck dafür, daß es den Erkennungsreflex (9) zu diesem Zeitpunkt nicht geben kann. Die Mütter schauen nach der töchterlichen Addition und dann in der mystizistischen “Aufhebung” der Schmach auf die Konkretheit der Person des Kindes.

Wir schauen auf die Männer in der Situation, in der sie das Kind zum ersten Mal sehen oder in die Arme nehmen dürfen. Wie will der Mann damit umgehen? Er schaut auf die Situation, es ist im Grunde egal, welches Kind er in den Armen hält. Er schaut auf seine Produktion und - es ist. Das Geschlecht des Kindes spielt erst beim 2.Blick eine Rolle. Es gibt Männer, die dann die tollsten Mütter sind und immer genau wissen, was richtig und was falsch für das Kind ist.

Also: der vatergeschädigte Mann schaut auf die Situation. Eigentlich schaut er in dieser Sicht auf sich selbst und ist z.B. auch darum besorgt, daß die Frau schnell wieder nach Hause kommt, damit sie ihn versorgen kann. Solcherart Gedanken haben mit dem Kind nur indirekt zu tun und das in einer Weise, die nicht gerade von der angemessenen Anwendung des männlichen Prinzips (hier: Gefühl der Annahme) zeugt.

Er addiert die söhnliche Addition (10): seine Selbstvorstellung kann sich dann im Kreativitätswahn ausdrücken, als sei er der Schöpfer (Kreator) des Kindes. Dann kann er die Verwechslung von Person und Sache vollziehen und entscheiden, ob er das Kind ablehnen will (z.B. wegen des Geschlechts), oder nicht. Der nächste Schritt könnte die patriarchale Addition (11) sein, das hängt von seiner Selbstvorstellung ab.

Schlußfolgerung

Bei Frauen findet zuerst die töchterliche Addition statt, dann die “Herausarbeitung” aus ihr durch Mystizismus, und dann treten die lebensstiltypischen Folgen in Erscheinung. Bei Männern findet zuerst die söhnliche Addition statt, und dann kommt der Blick auf das Kind, der mit der persönlichen Selbstvorstellung in Einklang gebracht werden muß. Wir leisten uns eine Phantasie:

Wie sähe das in geschlechtsegalitären Gesellschaften aus? In ihnen gab es die Erfahrung der Schmach nicht. Diese Kinder dürften Furcht als gedachtes Gefühl nicht gelernt haben. Furcht ist auch nicht überlebensnotwendig. Vor einem Säbelzahntiger (12) stehend wäre sie genausowenig angebracht wie Angst. Nur die Sorge kann auf den nächsten Baum helfen.

Ist Trauer, das nächste gedachte Gefühl in der Reihe unserer VA-orientierten Lernerfolge, überlebensnotwendig? Besorgnis gegenüber der Entfernung von Gemeinschaft wäre es. Trauer wäre hier eine Empfindung, die überlebenswirksam sein kann. Ab hier würden also die Möglichkeiten der gedachten Gefühle eines Menschen nach der Verwundung starten, um Überleben auch bei kränkenden Erfahrungen zu ermöglichen.

4. Schlußbemerkung

Wir möchten zur Darstellung bringen, daß es das gedachte Gefühl der “Furcht” erst seit der Vaterschädigung gibt, und wir lernen sie über die Schmacherfahrung der Mutter. Von daher ist es kein Wunder, daß Frauen, deren Väter das Inzesttabu durchbrochen haben (siehe hier den Anhang), auf dieses gedachte Gefühl zurückgreifen, da hier bei der Frau noch etwas anderes stattfinden muß als bloß irgendeine Verdrängung: Sie muß sinnvollerweise den Übergriff abwehren, darf um der Notwendigkeit willen, in der Familie weiterleben zu müssen, den Inhalt nicht behalten - und deshalb auch nicht die Sinnhaftigkeit ihrer angemessenen Abwehr. Was bleibt, ist dieses numinose Empfinden (Furcht), verbunden mit dem sorgenvollen Gedanken, irgendetwas unterlassen zu haben, um dem Vater zu gefallen.

Weshalb wird auf die Furcht zurückgegriffen? Wem wird was verweigert? Furcht ist das Gegenteil von Gewißheit. Gewißheit ist Ausfluß der Primäridentität, sie ist gekoppelt an das “Recht auf sich selbst”: Furcht bedeutet also immer auch einen autoaggressiven Angriff auf das “Recht auf sich selbst”. Die Verweigerung geschieht gegenüber der Klarheit der Erfahrung eines Angriffs gegen das “Recht auf sich selbst”. Gleichzeitig wird die Erfahrung des “Rechts auf sich selbst” verweigert, um einer weiteren Verwundung zu entgehen. Hier ist die Wurzel für jenes Tabu zu finden, das in vielen sogenannten modernen Kulturen eine herausragende Rolle spielt: das Tabu der elterlichen Autorität (13). Im Ernstfall darf dieses Tabu nicht verletzt werden, sonst droht die Vernichtung - analog der frühkindlichen Erfahrung, daß das Kind sich nicht selbst versorgen kann. Diese Erfahrung ist Bestandteil des Frontalhirns (des Unterbewußten des Geistes) und impulsiert spontan in Situationen unser Verhalten, in denen das Recht auf sich selbst unmittelbar spürbar werden kann.

Was heißt das im Hinblick auf die Primärfurchterfahrung? In dem Moment, wo eine Frau die Mutterschaft in der Begegnung mit dem Kind außerhalb ihres Leibes erlebt, wird all das Vorherige aufgehoben (die 9 Monate Schwangerschaft). Das kann im Nachhinein wieder hereingegeben werden (“damals im 4. Monat, da ...”). Also: ob sie ein Kind adoptiert oder selbst gebiert - für das Empfinden dem Kind gegenüber spielt das keine Rolle.

Nach der Geburt entsteht die unmittelbare Akzeptanz der Mutterschaft: Die vatergeschädigte Mutter meint, durch das Kind das “Recht auf sich selbst” wiederzuerlangen.

Keiner Frau (also eben auch keiner Mutter) wird das “Recht auf sich selbst” zugestanden, wenn wir genau hinschauen. Ganz banal: Es wird z.B. jene Kritik geäußert: “Meine Mutter hat immer ein Mittagsschläfchen gemacht”, das kommt dann oft vorwurfsvoll, denn sie war in der Zeit nicht verfügbar. Vätern wird das viel eher zugestanden (“sie arbeiten ja auch so hart”); sie haben immer ein Recht auf sich selbst. Es gibt auch die Möglichkeit, daß eine Frau für sich entscheidet, kein Kind zu wollen. Diese Entscheidung kann (muß jedoch nicht!) z.B. daraus hervorgehen, daß sie sich, um überhaupt erst ihr Recht auf sich selbst wahrnehmen zu können, ihr Recht auf das Widerfahrnis von “leben” erarbeiten muß.

Wir meinen also, daß in der Situation des ersten Kontaktes mit dem Kind bei der Frau die töchterliche Addition anwesend ist. Das weibliche Geschlecht einer Frau ist nach der Geburt eines Kindes unübersehbar und nicht zu verleugnen. Und deshalb wird die patriarchal orientierte Verwundung einer Frau gerade da besonders wirksam - ungewollt.

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